Die Weisse Eule: Ein schamanisches Ritual aus dem Hier und Jetzt (German Edition) by Adrian Osswald

Autor:Adrian Osswald [Osswald, Adrian]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-04T16:00:00+00:00

Wanderer zwischen den Welten – das Wiedersehen mit Großvater Saryglar

Proitze, Herbst 2000 – Bei dem großen Seminar der Foundation for Shamanic Studies im niedersächsischen Proitze begegneten wir uns das erste Mal seit 1996 in der alltäglichen Wirklichkeit. Die Begrüßung fiel etwas zurückhaltend aus – so müssen sich wohl langjährige Brieffreunde bei einem ersten Treffen fühlen. Saryglar war mir sehr nahe und vertraut, doch den Mann, der mir nun gegenüberstand, empfand ich dennoch als Fremden.

Nachdem ich mein Zimmer im Seminarhof bezogen hatten, traf ich ihn draußen auf dem Vorplatz. Er packte mich am Handgelenk und zog mich auf einen Waldweg – er wollte mit mir einen kleinen Spaziergang machen. Es war niemand in der Nähe, der als Dolmetscher hätte fungieren können, doch offenbar war ihm das nicht wichtig. Er sprach ein Gemisch aus Russisch und Tuvinisch, ich blieb bei meinem Schweizer Dialekt. Wir sprachen leise, lauschten dem Klang der Stimme des anderen, lachten zusammen. So kamen wir uns auch in der Wirklichkeit der Gegenwart wieder näher. Schließlich übergab ich ihm drei kleine Geschenke. Als er das Letzte in Händen hielt, zog er mich zu sich herunter, umarmte und beschnupperte mich. Hand in Hand und voller Freude kehrten wir zum Seminarhof zurück. Auf dem Vorplatz hatten sich inzwischen viele Menschen versammelt.

„Was für ein schönes Bild! Ihr solltet euch mal strahlen sehen!“, sagte eine Frau.

Am Abend nahm mich Saryglar mit auf sein Zimmer und bat Rollanda als Übersetzerin zu uns. So Vieles hatten wir zu bereden! Zum Schluss nahm er seine und meine Trommel zur Hand und rieb deren Hautflächen aufeinander.

„Auf diese Weise sind unsere Trommeln verbunden“, sagte er. „Immer, wenn ich meine Trommel schlage oder du deine Trommel schlägst, sind wir miteinander verbunden. Sie ist nun das äußere Zeichen unserer Verbundenheit. Aber wir träumen auch mit- und voneinander. Wir spüren, wie es dem anderen geht. Wir sind eine Familie.“

„Schamanentum“, hatte mir Saryglar bei diesem abendlichen Treffen zuvor erklärt, „bedeutet Verbundenheit. Verbundenheit mit der uns umgebenden Welt. Verbundenheit mit den Geistern. Verbundenheit mit dem Ganzen. Verbundenheit zwischen Lehrer und Schüler. Ohne Verbundenheit gelingt nichts zwischen Lehrer und Schüler. Ohne Verbundenheit kann man nicht schamanisieren.“

Während des Seminars wurden wir in drei Gruppen aufgeteilt. In der Pause sprach mich die Teilnehmerin einer anderen Gruppe an.

„Er hat von dir gesprochen. Du bist doch Adrian, oder?“

Ich sah sie fragend an.

„Na, der kleine Schamane, Saryglar, hat in unserer Gruppe von dir gesprochen. Er sagte, dass das, was ihr beide miteinander erlebt, Verbundenheit sei“.

Schon eine Woche nach dem Seminar der Foundation for Shamanic Studies in Proitze sah ich Saryglar wieder. Mit Professor Kenin-Lopsan, den Schamanen Nikolai Oorzhak Munzukovich und die Schamanin Nina Dowuu Wasiliewna war Großvater zu dem Kongress „Wanderer zwischen den Welten. Schamanismus im neuen Jahrtausend“ in Garmisch-Partenkirchen angereist. Dass ich an dem Kongress teilnehmen konnte, hatte mir mein guter Freund Steven ermöglicht, der sowohl die Übernachtung als auch die Eintrittskarte bezahlte. Er war der erste meiner schamanischen Schüler und nahm selbst am Kongress teil.

Im Lauf der Woche wurde Steven von Saryglar behandelt. Großvater nahm seinen Kopfputz ab und setzte ihn meinem Freund auf.

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